Das Beste aus 40 Jahren – Mitfahrt in der Trommel
- 25. März 2020
- Red. OLDTIMER MARKT
Werfen Sie mit uns anlässlich der Jubiläen von OLDTIMER MARKT (40 Jahre) und OLDTIMER PRAXIS (30 Jahre) einen Blick zurück auf die schönsten Geschichten aus beiden Magazinen! In OLDTIMER MARKT 9/1992 begab sich Martin Brüggemann (wieder mal) in Gefahr und buchte eine Mitfahrt bei Steilwandfahrer Dieter Minewitsch – auf der Lenkstange einer Indian Scout!
Trommelwirbel
Jetzt geht's rund: MARKT berichtet life von der Lenkstange einer Steilwandmaschine
Dieter hat schlecht geschlafen. Bis tief in die Nacht wirbelte der Steilwandartist auf seiner Indian durch den hölzernen Zuber. Mehr als 30 Vorstellungen bei Lärm und stickigen Abgasen im heißen Kessel. Und jetzt auch noch dieser suizidgefährdete MARKT-Redakteur mit seinen Wünschen!
"Wie bitte?" Ein dunkles Augenpaar blickt mich so ungläubig an, als hätte ich um die Hand des jungen Mannes angehalten, der mich gerade skeptisch mustert. "Du willst auf meinem Motorrad mitfahren?" Mein Gegenüber kann es nicht fassen. "Zu zweit auf der Scout in der Steilwand — niemals, das ist unmöglich!" Der drahtige Zweiradakrobat winkt mich mit dem Zeigefinger zur Maschine. "Siehst du", deutet er auf wulstige Schweißnähte am Rahmenrohr, "ist schon dreimal gebrochen, und zwar im Solobetrieb!" Der Mann hat mich ziemlich schnell überzeugt. War ja auch nur eine Schnapsidee, diese Sache mit der Steilwandfahrerei.
Um mir die Flausen gänzlich aus dem Kopf zu treiben, zeigt mit Dieter Minewitsch noch einen Satz gebrochener Speichen vom vergangenen Wochenende, wüste Reifenspuren an den senkrechten Holzplanken, die abrupt acht Meter über dem Kesselboden enden, um dann eine Schienbeinlänge weiter Zeugen eines spektakulären Sturzes zu werden. Und dann seien da noch die langen Holzsplitter, die entstanden sind, als beim Go-Kart die Achse brach. Außerdem sei er in der vergangenen Woche einem Zuschauer über die Fingerspitzen gefahren, der seine Hand zufällig unterhalb des Begrenzungsseils hielt. Schrecklich! Ich bin dankbar, dass er nicht noch mahnende Blutspritzer oder Amputate vorführt.
Zum Aufwärmen die Honda
"Wir könnten ja mal eine Runde auf der Honda probieren", bietet mir Dieter an, als ich bereits meine sieben Sachen gepackt habe. "Natürlich nur ganz unten auf der Startbahn, um zu testen, ob du das überhaupt aushälst. Den meisten wird nämlich sofort schwarz vor Augen, weil die Zentrifugalkraft das Blut aus dem Kopf zieht, du verstehst?" Na klar verstehe ich und will nach Hause. Mit 'nem japanischen Scrambler an der Steilwand — und das in einer Oldtimerzeitschrift? Nee, ist ja sowieso zu gefährlich, der Spaß! Dass ich mich dann kurze Zeit später doch zum Probesitzen hinter dem Piloten wiederfinde, verdanke ich wohl dem Zureden des Fotografen, der sich mit sensationellen Katastrophenfotos bereits auf Titelblättern der Boulevardpresse gedruckt sieht.
Dieter hockt vor mir auf dem Rundreisegerät und prüft die Telegabel. "Könnte klappen", räumt mir der Lockenkopf eine geringe Überlebenschance ein. "Kann, muß aber nicht", denke ich und halte es mit Oscar Wilde (Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten). Um das niedliche Kraftrad auf die Doppelbelastung vorzubereiten, erhöht mein Chauffeur den Luftdruck auf drei bar, prüft mit routinierter Handbewegung die kurzlebigigen Speichen und kontrolliert den Tankinhalt. Dieter scheint Freude an unserem waghalsigen Unternehmen gefunden zu haben. Das Funkeln in seinen Augen werte ich jedenfalls nicht als Sadismus.
Ein Druck auf das Starterknöpfchen, und der zierliche Viertakter bringt mit infernalischem Gebrüll die gesamte Holzkonstruktion zum Vibrieren. Das riesige Megaphon macht aus der harmlosen 125er im Handumdrehen einen amerikanischen Hubraumriesen. "Ich fahre sie kurz warm", ruft Dieter mir zu und fegt los, bevor ich ihm zurufen kann, dass die Kesseltür noch sperrangelweit geöffnet ist. Machtlos stehe ich in der Trommel und sehe, wie der Unglückselige in sein Verderben knattert. Ich kann nicht hinschauen, drehe mich um und stelle mir vor, wie der kleine Artist mitsamt Motorrad aus der Luke schießt und wie Nils Holgersson auf seiner Gans im hohen Bogen über den Rummelplatz fegt. Doch das sonore Auspuffgeräusch verstummt nicht! Als ich vorsichtig wieder einen Blick riskiere, kurvt Dieter bereits in neun Meter Höhe kurz unterhalb des Sicherheitsseils und hebt das rechte Bein über den Lenker. Mit etwa 50 Stundenkilometern pendelt der 40jährige auf der bunten Kreissäge über die gesamte Fahrbahnbreite, und ich wundere mich, dass er dabei so alt geworden ist.
"Halt dich gut fest und leg das Kinn auf meine Schulter, damit es dir nicht die Plomben raushaut!"
Steilwandfahrer Dieter Minewitsch gibt Tipps für die Mitfahrt
Nach etwa 20 Runden scheint die Maschine ein angenehmes Betriebsklima erreicht zu haben. Dieter landet, ich darf hinter ihm Platz nehmen. Zu meiner Beruhigung sehe ich, wie ein Mitarbeiter die gewaltige Holzpforte schließt. Wenigstens etwas. "Halt dich gut fest und leg das Kinn auf meine Schulter, damit es dir nicht die Plomben raushaut!" Ich gehorche und verfluche den Tag, an dem mir dieser Unsinn einfiel. Zu weiteren Überlegungen, wie ich dieses Unheil am besten von mir wenden könnte, kommt es nicht mehr: Die Fuhre setzt sich in Bewegung. Das blecherne Viertakt-Stakkato suggeriert mir eine Geschwindigkeit von mindestens 120 km/h. Später erfahre ich dann, dass wir mit nur gut 40 Sachen unterwegs waren.
Jetzt rotieren wir gerade auf halber Höhe der rot-schwarzen Startbahn, und ich fühle mich bereits wie der Frosch im Mixer. Keine Frage, gegen diese Trommel ist mein geliebter Kreisverkehr in Mainz-Kastell ein lahmer Zock! Dieter schaltet die Gänge durch, das Knattern wird sonor und verliert ein wenig an Respekt. An Respekt gewinnt jedoch die Schräglage, in der wir uns momentan befinden. Noch zwei, drei Runden in der karierten Halfpipe, dann klebt die Maschine an den senkrechten Planken. Ich spüre jede Bohle, jede Schraube. Die Federelemente der Honda haben der enormen Belastung nichts mehr entgegenzusetzen, vermitteln pures Starrahmen-Feeling. Auch meine Wirbelsäule kann sich nur schwerlich gegen die Zentrifugalkraft wehren, die kleinste Bewegung wird zur Strapaze. Verständlicherweise hält sich mein Bewegungsdrang jedoch in Grenzen. Ich mag nicht, wie mir eingeimpft wurde, zur Kamera winken und fröhlich über die Schulter lachen. Ich grüße auch nicht meine Eltern und Schwager Winfried aus Wanne-Eickel, sondern stelle mit Entsetzen fest, dass das Zweirad mittlerweile bedenklich nahe am oberen Kesselrand kurvt. Inzwischen habe ich völlig die Orientierung verloren, bin schwindlig und habe nur einen Wunsch: runter hier! Per Handzeichen versuche ich meinen Chefpiloten davon in Kenntniss zu setzen, doch mein Flehen soll nicht erhört werden. Irgendwie muß der Artist mein krampfhaftes Fuchteln nicht als letztes Lebenszeichen, sondern als lustigen Gruß gewertet haben. Dieter jedenfalls hält peinlich genau die Flughöhe, grinst in das Objektiv der Kamera und winkt.
Hauptwaschgang
Also gut, fahren wir noch ein Stück. Wie ein Kilo Kochwäsche im Hauptwaschgang poltert die Maschine durch den Riesenzuber, eher mein Vordermann endlich auf den Boden der Tatsachen zurückfindet. Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwie muß er das Ding da heil herunter bekommen haben. Als der Motor verstummt, hockt mein Körper, wahrscheinlich der Katalepsie verfallen, regungslos auf dem Zweirad, während mein Geist unbeirrt mit Schallgeschwindigkeit durch den Bottich donnert. Der Entschluß, dann doch abzusteigen, war nicht so gut. Ich wanke über den Kesselboden wie Harald Juhnke in seinen besten Zeiten.
Während ich überlege, wie ich jetzt einen möglichst unauffälligen Eindruck hinterlasse, inspiziert Dieter bereits die Indian und blickt mich besorgt an. Er deutet auf den riesigen Solosattel. "Wo willst du überhaupt sitzen?" Mir ist alles egal. "Ja", antworte ich, felsenfest davon überzeugt, dass ich einen zweiten Ritt auf der Kanonenkugel nicht überleben werde. Aber mein Kreisdirektor gibt keine Ruhe. Er will es wissen! Und das mit mir, der ich doch schon immer gegen Tierversuche war! "Setz dich einfach auf den Lenker", scherzt er, "damit das Gewicht gleichmäßig verteilt wird." Ich lache. Als Dieter das 600erScout-Triebwerk mit einem lockeren Tritt auf den wackeligen Starter zum Leben erweckt und mich höflich bittet aufzusteigen, gefriert mir das Lachen. Der Mann meint ihn ernst, den Gag mit der Lenkstange! Folgsam wie ein treuer Dackel erklimme ich den Bug der betagten 12-PS-Maschine. Der Tank ist mit einer schwarzen Polsterung versehen, also rutsche ich, soweit es möglich ist, nach hinten. "Sitzt du bequem?" fragt die Stimme in meinem Rücken. Ich erinnere mich an vergangene Turnstunden, meine gescheiterten Versuche am Stufenbarren, sehe meinen kopfschüttelnden Sportlehrer und nicke eifrig.
Bei einer Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern hat der Fahrer 5 g wegzustecken. Das entspricht dem fünffachen des eigenen Körpergewichtes.
Martin Brüggemann, theoretisch gut vorbereitet
"Gut festhalten, wir starten!" Festhalten — gerne, aber wo? Meine Hände suchen krampfhaft eine freie Stelle am Lenker. Dieter betätigt die Fußkupplung und legt mit dem ausladenden Handschalthebel den zweiten Gang ein ("Die hat genug Dampf, der erste ist vollkommen überflüssig.") Beim Einkuppeln erhöht der Steilwandfahrer das Standgas nur leicht, die Scout setzt jeden Kolbenschlag in gehörigen Vorwärtsschub um. Unter meinen Schenkeln spüre ich die heftigen Vibrationen des Lenkers. Drei Runden auf der Startbahn, dann ist die dritte Fahrstufe fällig: Die Indian kommt langsam, aber gewaltig. Erst weit oben im zylindrischen Teil des Kessels wählt der "Trittbrettfahrer" den höchsten Gang. Der V-Motor ballert untertourig über die Planken, fast lassen sich die Umdrehungen zählen. Aber danach ist mir gerade nicht. Wie versteinert throne ich vorn auf der Scout und wünschte, ich hätte so wenig Kreislaufprobleme wie die rote 600er.
Wer übrigens der Meinung ist, bei ARD und ZDF in der ersten Reihe zu sitzen, dem sei eine Runde auf der Scout-Lenkstange zu empfehlen. Inzwischen kreisen wir wieder ganz oben am Kesselrand, und mir geht es noch schlechter als bei unserem ersten Ausritt. Ich verfluche meine Frühstücksbrötchen, die zwei Tassen Kaffee und überhaupt. Ich erinnere mich an meine prophylaktische "Steilwand-Physikstunde" vom Vortag: Bei einer Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern hat der Fahrer 5 g wegzustecken. Das entspricht dem fünffachen des eigenen Körpergewichtes. "Bei vielen Leuten beginnt aber bei 5 g der Blutkreislauf auszusetzen", berichtet Das Motorrad in einer Ausgabe von 1956. Ich fürchte, auch ich gehöre dieser Spezies an. Ein letzter Versuch, beim Tiefflug in die Kamera zu winken, scheitert kläglich. Die Finger meiner rechten Hand lösen sich nur unwillig vom Lenker, als ich den Arm heben will, fühlt er sich an, als sei er aus Blei. Unbarmherzig gibt uns der Mann mit dem Fotoapparat ein Zeichen mit dem Zeigefinger: Noch ein paar Runden also, vielleicht hatte er ja keinen Film drin, oder der Blitz funktionierte nicht.. . Sicher ist sicher. Mein Vertrauen in Fahrer und Maschine ist inzwischen ein wenig gestiegen. Schließlich kreisen wir schon mindestens 30 Runden im Dampfkessel, warum also soll der gute Starrahmen nicht noch eine kleine Zugabe aushalten?
Auch Dieter scheint vom Erfolg unserer Vorstellung überzeugt zu sein. Langsam, aber sicher nähern wir uns wieder der karierten Landebahn, die Scout läuft behutsam aus. Ich behalte meinen Platz als Kühlerfigur noch ein paar Minuten und stelle zu meiner Verwunderung fest, dass mir das Kesseltreiben einen teuflischen Spaß gemacht hat. "Wenn die Maschine abgekühlt ist, drehen wir noch eine Runde", sagt Dieter. "Ich versichere dir, es ist noch niemand oben geblieben!"
Text: Martin Brüggemann
Das Beste aus 40 Jahren
Wir meinen, dass ein Wiedersehen mit einigen unserer Storys Freude machen kann. Dieser Artikel stammt aus OLDTIMER MARKT 9/1992. Die bisher erschienenen Artikel finden Sie hier – weitere sind bereits in Planung. Schauen Sie doch ab und zu mal wieder vorbei!