S-Klasse für Casino-Fans

Der letzte echte Cadillac

Es gibt Autos, die muss man er- oder gefahren haben, damit sie einem in den Fokus rücken. BMWs Neue Klasse ist so ein Kandidat, der leider auf ewig hinterm 02 anstehen muss, dabei beeindruckt der Viertürer mit leichtfüßiger Agilität, die im Limousinen-Segment zu dieser Zeit kein anderer deutscher Hersteller bieten konnte. Die Corvette C4 sieht aus, als habe sie Harry Voerthmann von der Hamburger GMBH persönlich designt, dabei will man aus ihr gar nicht mehr aussteigen, so viel Endorphin schütten die G-Kräfte in Kurven aus.

Der 1993er bis 1996er Cadillac Fleetwood ist auch so ein Kandidat, der hierzulande leichtfertig als “irgendein Ami” abgeheftet wird. Sein erstes Modelljahr feiert dieses Jahr auch bereits seinen Dreißigsten, aber vielleicht wirkt er mit seinen flächigen Flanken einfach noch zu frisch und futuristisch, um als Klassiker wahrgenommen zu werden. Dabei widersprach der letzte Fleetwood bei seiner Vorstellung 1992 nicht nur mit 5,71 Metern der bis dahin vorherrschenden Down-Sizing-Kultur, die Asphalt-Yacht markierte mit ihrer Einstellung 1996 bei General Motors auch das Ende der Ära riesiger, hinterradgetriebener Limousinen wie Chevrolet Caprice, Buick Roadmaster oder eben Cadillac Fleetwood.

Hätte mir Piot Wojcik 2015 nicht die Schlüssel von seinem 1995er Cadillac Fleetwood Brougham in die Hand gedrückt, damit ich die Interstate 15, eine topfebene Asphaltpiste durch Barstow und Baker, nach Las Vegas fahre, ich hätte nie Notiz von diesem letzten Luxuslimousinen-Saurier von GM genommen. Vielleicht handelt es sich sogar um einen der besten Cadillac, die je gebaut wurden, sofern man auf Kunst am Bau wie zur Heckflossenära verzichten kann.

Irgendwo während unserer Passage durchs Santa-Ana-Gebirge spielt Piot stolz am digitalen Cockpit rum und schaltet immer wieder zwischen metrischem und angloamerikanischem Maßsystem hin und her, bis ich völlig die Orientierung verloren habe. Tempomat auf 100 gesetzt und der Oase aller Spielsüchtigen entgegengleiten. Immer mal wieder blenden andere Verkehrsteilnehmer auf oder zeigen einem per Hand den Scheibenwischer. Geht ein Rücklicht nicht? Steht der Kofferraum, der sich sechs Meter hinterm Fahrer befindet und durch die Erdkrümmung nicht mehr zu sehen ist, auf? Irgendwann fährt mir die Erkenntnis schockwellenartig von den Beinen durchs Rückenmark ins Hirn: Der Tacho steht noch auf km/h! Mit 160 Kilometern pro Stunde rauschen wir entspannt durch die Wüste, wäre der Cadillac von 1965, es wäre schon längst aufgefallen.

Aber dieser perfekt gedämpfte und satt liegende Dampfer bringt einen selbst meilenweit vom Tempolimit entfernt entspannt ans Ziel - oder direkt ins Gefängnis wegen “excessive speeding”. Obwohl unser herrschaftliches Reisegefährt zu diesem Zeitpunkt mit 20 Jahren auf dem Buckel noch im Preistief dümpelt, fragt uns niemand beim kostenlosen Valet-Parking-Service des Golden Nugget Hotels, ob wir auch Gäste seien. Mit dem Herausgabezettel in der Tasche checken wir danach auf der anderen Straßenseite im billigen Four Queens ein.

Nach dem Modelljahr 1996 ging im GM-Werk im texanischen Arlington die Ära der rahmenbasierten Limousinen mit Hinterradantrieb und Starrachse beim damals noch größten Autobauer der Welt zu Ende, 101.000 Fleetwood waren seit 1993 gebaut worden. Die Werkskapazitäten wurden für den immer stärker boomenden Pick-up-Markt gebraucht. Dass mit dem Escalade ab 1999 dickere Cadillac-Luxusschlitten als je zuvor in Arlington vom Band rollen würden, ahnte da kaum jemand. Der 2023er Escalade ist ein 5,77 Meter langer Dreitonner - Stil und Größe des Fleetwood würde der Geländewagen aber selbst mit fünf Tonnen nicht mehr erreichen.