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Das Ding aus einer anderen Welt

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Ein Laster auf der linken Spur

Stellen wir uns doch einmal ein durchschnittliches Autobahn-Szenario vor 60 Jahren vor: Auf der rechten Spur vereinzelt LKW mit Marschtempo 60 und langsamer, dazwischen immer wieder Kleinwagen und Rollermobile, die nur unwesentlich schneller unterwegs sind. Auf der Überholspur lotet gerade ein VW-Fahrer die Höchstgeschwindigkeit seines Käfer aus - immerhin knapp über hundert Sachen bekommt der Kugelporsche drauf. Doch schon bald muss er Platz machen für einen der wenigen flotten Wagen vom Schlage eines Opel Kapitän, die noch ein bisschen schneller laufen. Plötzlich Lichthupe: Etwas blaues flaches rast von hinten heran.

Der Anblick verwirrt zuerst, das eilig herannahende Fahrzeug erinnert an einen Ponton-Mercedes ohne Motorhaube. Kapitän und Käfer wechseln verdutzt die Spur und schon rauscht das blaue Etwas mit gewaltigem Geschwindigkeitsüberschuss an beiden vorbei. Hinten drauf huckepack: Ein Mercedes-Silberpfeil. Das Ding, was da soeben auch Fahrzeuge der oberen Mittelklasse verblasen hat, war also wohl so etwas wie ein Transporter!

Inhaltsbild Der schellste Renntransporter der Welt

Das, was die Verkehrsteilnehmer ab dem Frühjahr 1955 so nachhaltig verstörte, war allerdings nicht irgendein Nutzfahrzeug, sondern der seinerzeit wohl schnellste Transporter der Welt. Gebaut für die Motorsportabteilung von Mercedes-Benz, um bei Rennen innerhalb Europas möglichst schnell zwischen Rennstrecke und Werk in Untertürkheim pendeln zu können. Dabei war es nicht nur die schiere Geschwindigkeit, die den Wagen so aus einer anderen Welt erscheinen ließ, auch seine Optik war anders als das, was man damals von einem Nutzfahrzeug erwartete: flach, gedrungen, die Fahrerkabine weit vor der Vorderachse überstehend. Die bauchigen Kotflügel vorn und hinten verbanden links und rechts Aluminiumschienen, die genau die Spurweite der damaligen Silberpfeil-Renner W196 und 300 SLR aufwiesen.

Inhaltsbild Flügeltürer-Technik im Nutzfahrzeug

Im Motorabteil hinter der Fahrerkabine ging’s dann auch wenig Nutzfahrzeugmäßig zu: Da saß nämlich das knapp 200 PS starke Triebwerk des Mercedes 300 SL mitsamt mechanischer Benzineinspritzung. Damals der letzte Stand der Technik. Um das 160 km/h schnelle und vollgetankt zwei Tonnen schwere Gefährt mitsamt wertvoller Ladung sicher zum Stillstand zu bringen, vertrauten die Konstrukteure auf vier massive Trommelbremsen mit Bremskraftverstärker und eine zusätzliche Scheibenbremse zwischen Kardanwelle und Differenzial. Der X-Rohrrahmen des 300 S dient - entsprechend angepasst und verstärkt - dem schnellen Arbeitstier als tragendes Rückgrat.

Inhaltsbild Nur ein Jahr im Dienst

Ob der tatsächliche Nutzen des Rentransporters für die Motorsportabteilung von Mercedes-Benz wirklich so groß war wie der erzielte Werbeeffekt, ist heute umstritten. Fakt ist jedoch, dass der Wagen nur eine sehr kurze Einsatzzeit hatte. Denn im selben Jahr 1955 beschloss die Führung bei Mercedes nach dem tragischen Unfall in Le Mans auch den Ausstieg aus dem Motorsport, so dass der Transporter keinem wirklichen Einsatzzweck mehr diente. Und obwohl seinerzeit etliche Rennställe den blauen Schnelllaster gerne gekauft hätten, so diente er noch einige Jahre als Ausstellungsstück und Testfahrzeug, bis er im Dezember 1967 auf Anweisung von Rudolf Uhlenhaut verschrottet wurde.

Spektakulärer Nachbau

Eine Entscheidung die die Marke später bereute. Denn 2001 präsentierte Mercedes einen kompletten Neuaufbau, den die Firma Mika in Mölln auf die Räder gestellt hatte. In perfekter Handarbeit, nahezu ohne Konstruktionspläne haben die Profis den blauen Spezialtransporter aus dem Nichts entstehen lassen. Heute ziert dieser Nachbau die permanente Ausstellung des Werksmuseums in Stuttgart.

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